Samstag, 21. Juli 2012

Was mit den Gedanken tun

... fehlt da nicht ein Zeichen: Fragend? Ausrufend! - Oder gar die drei Pünktchen, mit denen ich den Post hier beginne? Ja! Das passende Zeichen gibt der Aussage den Gehalt, aber manchmal lässt man sie weg, weil der Leser selbst entscheiden soll. Denn es ist ein Unterschied, welches Zeichen man setzt, es ändert nicht nur in der geschriebenen, auch in der gesprochenen Sprache den Sinn eines Satzes. Die gesprochenen Zeichen sind Laute - Ironie entsteht so, Trauer, Empörung, Fröhlichkeit, die ansteckt, Griesgram, der aneckt. Im Netz bleibt nur das Zeichen - oder hilfsweise das Smiley - um zu sagen, wie das Gesagte gemeint ist, und bei all der Schnell-Leserei scheint auch das vielen zu entgehen oder sie verzichten darauf, beim Schreiben wie beim Lesen. Schade ist das, denn letztlich arbeiten wir ja mit Worten, wenn wir schreiben, aber auch, wenn wir sprechen - wir wollen etwas ausdrücken, und zwar so, dass das Gegenüber uns auch versteht.

Seit einiger Zeit ist viel die Rede von den "schlechten" Einflüssen des Internets, von "Cyber-Mobbing", von "Shitstorms". Digitale Empörung, die Übersetzung für Shitstorm hat was! Sie drückt nämlich aus, dass diese Empörung nicht real, sondern digital ist. Nur stehen dahinter reale Menschen, die aber offenbar mit dem Eintritt in die digitale Welt vergessen, dass sie auch online reale Menschen bleiben. Würden sie so mit ihrem Nachbarn reden? Mit ihrem Chef, wenn sie ihm persönlich im Büro gegenüberstünden? Mit dem Beamten auf dem "Amt"? Normalerweise stellt man in Textzusammenhängen solche Fragen rhetorisch, das heißt, ich erwarte jetzt vom Leser ein inneres "NEIN". Aber die Lektüre der Offline-Medien (sprich: die Zeitung beim gemütlichen Urlaubs-Frühstück) offenbart, dass der Umgang mit den Mitmenschen auch im realen Leben zunehmend leidet. Der Ton sei rauher geworden, in Ämtern, in Firmen, allüberall. Und was bietet man als Lösung an? "Wir versuchen zunehmend, den persönlichen Kontakt zu vermeiden."

Das stand da wirklich und wahrhaftig. Und dafür kann das Internet nun wirklich nix.

Ich wünsche Euch ein kreatives Wochenende - und die nötige Muße und Gelassenheit, über die richtigen Zeichen nachzudenken. Online, Offline. In Geschichten, in Posts, im wahren Leben.

Sonntag, 3. Juni 2012

Was mich inspirierte


"Wann immer Eli dieser Tage in den Garten kam, führte ihr erster Weg zur Terrasse, außer an einem Mittag im frühen Juni. Sprachlos stand sie da und staunte: All das Gestrüpp mit seinen Dornenranken, das grüne Gewirr, das die Bäume und Sträucher durchwuchs, den Pavillon bedeckte, die Mauer und die Pergola unter sich begrub und über die Terrasse bis aufs Dach des alten Hauses hinaufwucherte, all das Hässliche und Stachlige, über das sie so oft geschimpft hatte, weil es die Blumen erstickte, weil sie sich die Hände daran aufriss und die Kleider, wenn sie nicht aufpasste, das alles war über Nacht zu einem vieltausendblättrigen Blütenmeer aus zartem Rosé und sattem Rosa, aus kräftigem Rot und strahlendem Weiß, aus Crème- und Sonnenaufgangsgelb geworden. Als hätte ein Maler die Farben von Sonne und Mond, Feuer und Schnee zu immer neuen Nuancen auf seiner Palette gemischt und so satt auf grünen Grund getupft, bis sogar Elis Regenbogenbeet nur mehr ein Klecks darin war. Und als Firnis hatte er einen süßen Duft mit einem Hauch frischgeriebener Zitrone darüber gelegt. Selbst Nikodemus strahlte: Die Rosen blühten – der Sommer war da!"

aus: Nikola Hahn, der Garten der alten Dame


Eine der häufigsten Fragen, die Leser und Journalisten Schriftstellern stellen, ist die, woher man "die Idee" nehme. Für meinen Roman "Der Garten der alten Dame" lag diese Idee sozusagen direkt vor der Haustür. Hier der Beweis:

Der Garten ...


    

Dienstag, 29. Mai 2012

Worte zum Klingen bringen

Als ich vor vielen Jahren (Mitte der 1980er) einen Fernlehrgang im Schreiben belegte, buchte ich zusätzlich zum belletristischen und journalistischen Schreiben einen Lyrikkurs hinzu - damals gab es das noch, heute findet die "Kleine Form" dort keine Nische mehr. Für mich war es eine Dreingabe, denn eigentlich wollte ich vor allem das Romanschreiben lernen. In der Nachschau jedoch haben mich diese wenigen Monate, die ich "lyrisch verlängerte", eine wundervolle Erfahrung gelehrt: Wie bereichernd es sein kann, mit wenigen Worten Empfindungen Leben zu geben. Es gibt Stoffe, die tragen für Romane, andere lassen sich zu Geschichten formen, aber wenn es um das Eigentliche geht, um das, was Leben "tief drinnen" mit uns macht, wie wir darüber fantasieren, räsonieren, lamentieren, kommt die Poesie zum Zuge! Mit Worten spielen, sie konzentrieren, sich konzentrieren, feilen, überlegen, wägen, wiegen, wagen: sagen ... Es ist diese Freude, mit der Sprache zu spielen, die mich immer wieder zur Lyrik treibt, der brotlosen Kunst, von der man behauptet, dass mehr Menschen sie produzierten als läsen.
Die Freude am Tun kann das nicht nehmen, und so entstand im vergangenen Jahr ein kleiner Zyklus, GedankenBilder. Nicht nur für die Schublade, nein, aber so "klein" in der Öffentlichkeit, dass es sozusagen doch privat blieb. Und dann kam diese Post ... Spuren sind meine Worte. Eine Ausschreibung für einen Förderpreis in Lyrik - den Verleger kenne ich seit langen Jahren, bewundere sein Engagement für die Lyrik, die feinen, schönen Bücher seines kleinen Verlags, der nichts als Lyrik herausgibt. In der einen und anderen Anthologie war ich vertreten: Lyrik heute, Das Gedicht, Der Wald steht schwarz und schweiget. Lange ist das her.

Spuren sind meine Worte. Welch ein wunderbares Motto! Ja, ich habe mal wieder meine Gedichte ausgepackt ... eine Auswahl getroffen und eingesandt. Eine stille Freude.


Gedichte sind
Gedanken
Wörter-Welten
Träumen Wachen
Trauern Lachen
Leben
Auf den Punkt gebracht.

(aus: Baumgesicht, 2009)

Samstag, 19. Mai 2012

Hängengeblieben

Tja, so geht es manchmal: Unmassen von Material gesichtet, stapelweise Bücher durchgeackert, tausend Ideen, und man kriegt nix aufs Papier ... ähm, in den PC. Auch beim Romanschreiben kenne ich solche Phasen; nein, Schreibblockade möchte ich das nicht nennen, das wäre mir zu dramatisch. Es ist einfach eine schreibunkreative Phase. Was also tun? Den Garten genießen, Unkraut jäten, Haus mal wieder putzen, und das Gedankenkarussell einfach laufen lassen. Das Schöne ist, dass es mir von selbst sagt, wann es wieder bereit ist, neue Gäste aufzunehmen *g*.

Wenn ich meine "schreibunlustigen Zeiten" nachträglich hinterfrage (und ehrlich bin), so lag es meistens daran, dass das, was ich wollte, so nicht funktionieren konnte. Beim Roman stimmt dann oft etwas mit den Figuren nicht, sie stellen sich im wahrsten Sinne des Wortes quer. Manchmal wollen sie auch einfach eine Pause haben, und ein anderes Mal merke ich, dass mir für eine Beschreibung noch Details fehlen. Und jetzt also die Krux mit der Wahrheit. So ist das "hängengebliebene" Kapitel in meinem Manuskript überschrieben, aber SO hatte ich das nun nicht gemeint! Ich glaube, in diesem Fall ist mein Problem, dass ich nicht zu wenig, sondern viel zu viel gelesen habe. Schließlich kann es in einem Vernehmungsbuch nicht darum gehen, philosphische Betrachtungen über die "einzig wahre Wahrheit" anzustellen. Aber in die Tiefen philosophischer Betrachtungen über das Leben einzutauchen, ist unglaublich spannend! Ja, das hat auch was mit Wahrnehmung, mit Irrtum, mit Denken zu tun - aber das kommt ja alles noch in späteren Kapiteln. Ich weiß genau, WIE es in dem Buch stehen soll, aber nicht, WIE ich das hinbekomme, es so zu schreiben, dass es nicht zu viel und nicht zu wenig wird ... Aber auch das ist ähnlich wie beim Romanschreiben.
Als ich an "Die Farbe von Kristall" arbeitete, stapelten sich kopierte Zeitungsartikel auf dem Schreibtisch, und außerdem so viele Bücher, dass ich nur noch mit Hilfe von unzähligen Post-its einigermaßen den Überblick behalten konnte. So viele interessante Dinge fanden sich, und ich glaubte, das müsse unbedingt irgendwie in die Geschichte hinein... Hätte ich nicht irgendwann rigoros gesagt: NEIN, das interessiert den Leser nicht!, wäre der Roman wohl noch zweihundert Seiten länger geworden. Zum Glück habe ich kompromisslose Testleser, die mir meine "Auswüchse" um die Ohren hauen, wenn sie zu opulent geraten. In diesem Sinne: Die Wahrheit ruft!

Mit nächtlichen Grüßen
Nikola

PS: Wer gern mal ganz konkret und chronologisch wissen will, wie ein Roman entsteht, dem empfehle ich das Romantagebuch von Jutta Wilke: http://romantagebuch.blogspot.de/

Sonntag, 6. Mai 2012

Der Atem der Vergangenheit

Was macht es so spannend, in alten Büchern zu graben? Na gut, falsch formuliert: Was macht es so spannend für MICH, in alten Büchern zu graben? Es ist die Lust am Entdecken, die Neugier auf das, was gestern wahr war und heute vergessen ist - aber auch die Faszination, auf vergilbtem Papier und in alter Schrift das zu finden, was auch heute bewegt, zu erkennen: Die Welt hat sich gewandelt und ist doch gleichgeblieben.
Neben den gestern erwähnten lesetechnischen Ausflügen in die Welt der Neurowissenschaft, reise ich parallel in die Welt der 1920er Jahre und studiere "Lehrbriefe" über "Die Kunst richtig zu denken" in vier Teilen. So heißt das kleine Werk, das 1922 erschienen ist, aber tatsächlich auf Ausführungen zurückgeht, die noch einhundert Jahre älter sind. Der vollständige Titel lautet:

Die Kunst, richtig zu denken
Ein Lehrgang der Gymnastik des Geistes und eine Schule des Denkens in Unterrichtsbriefen für alle, die etwas erreichen wollen

von

 Prof. J. A. Bergk
neu bearbeitet und erweitert von
Reinhold Gerling und Hanns F. Frosch


9. bis 11. Tausend
Orania-Verlag G.m.b.H., Berlin (1922)


Auf vergilbtem Papier in Fraktur gedruckt (woran ich mich immer erst ein wenig gewöhnen muss, bis es beim Lesen "flutscht"), der Umschlag eine billige blaue Pappe, Band eins mit Klebeband zusammengehalten und der Titel sicherlich alles andere als marktgängig: Die vier Büchlein spiegeln die Zeit, in der sie entstanden, innen wie außen, die Anfänge der Weimarer Republik, Jahre der Not, aber auch den Aufbruch in neue Zeiten.
Warum lese ich das - zumal ich ja gerade KEINEN historischen Roman schreibe, sondern ein sehr gegenwärtiges Buch über Vernehmungstechniken? Ich könnte das seitenweise erklären, tue ich aber nicht, weil Ihr mir das sicher übel nehmen würdet, also kurz: Es ist erhellend! Es hilft, Neues einzusortieren, ein bisschen gelassener zu werden und abzuwägen, wenn es daran geht, zu entscheiden: Was ist wirklich neu - und mit welchen Dingen beschäftigen wir und nur neu?
Bevor ich wieder eintauche in den Gilb der Geschichte :)) ein kurzes Zitat aus ebenjenem Buch:

"Wir unterschätzen die Vergangenheit, weil wir die Gegenwart übeschätzen. Nur vergessen wir dabei, daß wir ganz und gar auf den Schultern der Alten stehen, und daß sie - von den technischen Erfolgen abgesehen - recht viel von den Dingen wußten, die wir für Gedankenprodukte unserer Zeit halten. Sie brachten sie allerdings anders zum Ausdruck. Ihre Sprache war weniger "wissenschaftlich", aber sie war dafür verständlicher als die Sprache, die man heute für gewöhnlich in wissenschaftlichen Büchern antrifft (...)."
(Erster Teil, S. 10)

Das hat was, oder? Ja, und dann gibt es noch diese wunderbaren Augenblicke, die Sammler alter Werke wohl das Entsetzen in die Augen trieben: Anmerkungen der Leser, mit Bleistift an den Seitenrand geschrieben, Unterstreichungen, Fragezeichen, oder, wie in diesem Buch: eine persönliche Botschaft aus der Vergangenheit ... eine eingelegte Visitenkarte eines Dr. med. Rudolf B. (den vollen Namen lasse ich weg, da es heute noch Ärzte dieses Namens gibt ...), dessen Stempel auch im Buch zu finden ist, was mir zeigt, dass dieser Dr. med. irgendwann das Buch besessen hat. Und auf der Rückseite seiner Visitenkarte (auf deren Vorderseite außer dem Namen und "Arzt" nichts steht) hat er in schwarzer Tinte handschriftlich vermerkt: Immer das Gute sehen!
Ein Gruß aus der Vergangenheit, der berührt.

Habt einen schönen Sonntag.
Nikola

Samstag, 5. Mai 2012

Über die Wahrheit

... gibt es viel zu sagen und doch keine Antwort! Aber wenn man sich mit dem Thema "Wahrheitsfindung" schreibend beschäftigt, gehört es dazu, dass ich mich auf die Suche mache,  unterschiedliche Literatur lese und darüber nachdenke, wie sich das alles in das Buch einpasst, an dem ich gerade arbeite. Seit einiger Zeit dominieren in den Medien Themen mit der Vorsilbe "Neuro", und auf den ersten Blick könnte man meinen, da sei etwas völlig Revolutionäres auf dem Weg, das endlich erkläre, wie die Welt und insbesondere der Mensch ticke. Aber wie das so ist mit dem "ersten Blick": der zweite offenbart oft anderes und entlarvt den ersten als Konstrukt, eine Erstannahme ohne ausreichendes Prüfmaterial.
Heute Morgen kam (mal wieder ;) ) ein Bücherpäckchen an, durch das ich mich gerade querlese, mit dabei: Gedankenlesen und Die Neurogesellschaft. Natürlich habe ich mir auch einiges an Stoff zum Thema aus dem Netz "gefischt", aber schon die erste Durchsicht der Bücher zeigt den Wert gedruckter Information: umfassend, strukturiert, mit ordentlichen Quellenangaben versehen - das macht Freude zu lesen. Und dann lande ich über die Quellen doch wieder im Netz ... und entdecke eine Online-Zeitschrift, in die ich sicherlich demnächst öfter reinschauen werde: www.telepolis.de .

Und jetzt muss ich (nein: will ich!) weiterstudieren und überlegen, wie ich die geschätzten tausend Seiten Stoff, durch die ich mich seit der vergangenen Woche geackert habe, auf schätzungsweise zehn Seiten in meinem Manuskript runterbreche :))
Bis demnächst in der Stube
Nikola

Hier die genannten Bücher (beide von Stephan Schleim):





Sonntag, 15. April 2012

Wann erscheint der Roman, oder: Das interessiert die Leser nicht!


Liebe Leser!
Am Ende dieser zugegebnermaßen etwas opulenten Ausführung wird ein vorläufiger Abschied stehen ... aber voran steht erst einmal diese eine Frage, die zu beantworten ich versprach, nachdem ich quasi als Begleitmusik zum vierten Roman meine Schreibstube geöffnet hatte:

Wann gibt es endlich den neuen Roman? Mit Betonung auf DEN.

Den dritten, nicht den zweiten, nicht den vierten, denn der zweite erzählte von der alten Mühle im Odenwald, und der vierte, verflixt noch mal, von einem verzauberten Garten, und wieder nicht von Morden im alten Frankfurt!

Es ist viele Jahre her, um genau zu sein, fünfzehn (Gott, da erschrickt man ja selbst!), als ich vom Schreiben "kleiner Geschichten" auf das Schreiben "großer Geschichten" umstieg: Ich verfasste zwar nicht meinen ersten Roman, aber den ersten, für den ich einen Verlagsvertrag erhielt. Über die Themenfindung, das WIE und das WARUM dieser Geschichte haben mich zahlreiche Journalisten eingehend ausgequetscht, und ja, auch Ihr, liebe Leser, habt mir auf den weit über hundert Veranstaltungen, die mich über Jahre kreuz und quer durchs Land führten, zahlreiche Fragen gestellt. Dazu ist also genug gesagt und die "Buch- und Biografieseite" auf meiner Website gibt dem Neugierigen, so er denn immer noch danach sucht, die nötigen Antworten.

Mein Debütroman "Die Detektivin" war und ist ein Erfolg; nicht von Anfang an, ich musste sehr, sehr viel selbst dazutun, aber dann lief es richtig gut. Ich glaube, das darf man sagen, wenn ein Roman als Hard- und Softcover, in mehreren Sonderausgaben und in so vielen (Wieder-)Auflagen und Neuausgaben innerhalb diverser Verlagskonstellationen erschienen ist, dass selbst die Autorin irgendwann mit dem Zählen durcheinanderkam: Marion von Schröder, Heyne, Ullstein-Econ-List, noch mal Heyne, wieder Ullstein (die letzte Neuausgabe vom Januar 2011 mit - wieder mal - einem neuen Titelbild). Die genaue Auflagenhöhe meines Erstlings ist mir zwar nicht bekannt, aber von den mehr als 350 000 Exemplaren der Gesamtauflage macht "Die Detektivin" den "dicksten" Brocken aus, gefolgt von "Die Farbe von Kristall". Warum also, so die nächste Frage, schreibt diese seltsame Autorin nicht einfach weiter? Liefert alle zwei Jahre (oder noch besser: jedes Jahr!) eine Fortsetzung und macht ihre Leser glücklich?

Ganz einfach: Fortsetzungsgeschichten schreiben wollte ich nie. Und "Die Farbe von Kristall" entstand nur, weil mich die Stadtgeschichte von Frankfurt und die historische Kriminalistik, die eng mit dem Entstehen des Kriminalromans verbunden ist, so faszinierten, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weiterging. Weil mich diese bis dahin eher fremde Stadt neugierig machte, weil mir die Menschen, die historisch realen, aber auch die fiktiven, die ich selbst hineingesetzt hatte, über die Jahre ans Herz gewachsen waren. Ich drehte das Rad der Geschichte weiter, bis es für mich als Erzählerin wieder eine Herausforderung war und ließ meine Protagonisten in einer neuen Zeit weiterleben, -lachen, -leiden, ja, auch: sterben (was mir einige böse Briefe einbrachte). Wieder gelang es mir, meine Leser zu finden, und bis heute wird auch "Kristall" neu aufgelegt. Zehn Jahre nach dem Erscheinen der ersten Hardcoverausgabe bekomme ich regelmäßig über diverse Kanäle, die ich im WWW befahre, Leserpost, zumeist verbunden mit der obligatorischen Frage, die ich gerade zu erklären suche. Ja,  das freut mich, und es macht mich ein bisschen stolz angesichts der seit Jahren zu beobachtenden immer kürzeren Halbwertszeit von (neuen) Büchern, der meine Werke beharrlich trotz(t)en.

Schon zwischen dem ersten und dem zweiten historischen Roman hatte ich mir eine Pause und einen belletristischen Szenenwechsel verordnet - "Die Wassermühle" musste einfach sein. Wie schön, dass mir meine Leser auch in dieses Genre zahlreich folgten, immerhin bis heute weit mehr als vierzigtausend. Für ein Buch, das nur "nebenbei" veröffentlicht und für das keinerlei Werbung gemacht wurde, ein durchaus wohltuender Erfolg, der mir das anschließende Abtauchen in die Historie umsomehr erleichterte, da er mir die Gewissheit gab: Du kannst und darfst auch anderes erzählen.

Nachdem "Die Farbe von Kristall" veröffentlicht war, reichte eine "kleine Pause" nicht mehr. Dem mehrjährigen Schreibprozess schlossen sich eine zeitintensive "Öffentlichkeitsarbeit" und zahlreiche Lesungen an, und es  kamen Ereignisse hinzu, die auf die eine oder andere Art jeder im Leben erfährt: Krankheit und Tod, Hausumbau, eine berufliche Neuorientierung, die hohes Engagement und viel Zeit erforderte, und schließlich, kurz bevor das neue Romanprojekt "Hand und Fuß" bekommen sollte, die Erfahrung, dass  Leben und Gesundheit Geschenke sind, mit denen man achtsam umgehen sollte. Es folgte die Erkenntnis, dass das, was viele gut finden, nicht notwendigerweise allen guttun muss. Dass Dinge die für andere im hellsten Licht strahlen, für einen selbst keinen Glanz (mehr) haben. Und dass ich diese Dinge ändern sollte, musste. Egal, ob die anderen das für vernünftig oder angebracht halten würden. 

So sehr ich mit Leib und Seele Schriftstellerin bin, so sehr bin ich mit Leib und Seele Kriminalbeamtin. Die Kriminalbeamtin wird vom Steuerzahler finanziert, und ich weiß nicht nur zu schätzen, wie frei eine unkündbare Stellung macht, sondern ich versuche, dieses Privileg durch meine Arbeitsleistung zu honorieren. So lange ich meinen ersten Beruf habe, so lange wird er deshalb stets an erster Stelle stehen. Und doch kommt gleich danach der zweite; das Schreiben ist für mich schon seit vielen Jahren nicht nur Passion, sondern Profession, was sich nicht nur an der Steuererklärung bemisst, sondern auch an dem Anspruch, den ich an mein Handwerk stelle. Eine angemssene Bezahlung gehört auch hier dazu, aber ich habe die Freiheit, nein zu sagen, weil ich nicht davon leben muss.  

Die Zeit für meinen Zweitberuf war immer eng bemessen, ich habe meine Bücher neben unzähligen Überstunden, nach Vernehmungen und Durchsuchungen, nach Tagen intensiven Aktenstudiums, nach dem Abschluss und sogar in den wenigen Stunden Freizeit während diverser Mordermittlungen geschrieben; ich recherchierte, redigierte und korrigierte im Urlaub, am Wochenende, in jenen Stunden, wenn andere müde werden, wenn der Tag in die Nacht versinkt, wenn jene wundersame Ruhe einkehrt, die die Dinge verwischt und die Gedanken umso klarer werden lässt.
Nach "Kristall" brauchte ich in diesem Beruf eine Pause, die länger wurde als alle Pausen, die ich mir zuvor gegönnt hatte. Wenn man fast zwei Jahre in einer Quasi-Ruine lebt, weil man die eine Hälfte des Hauses einreißt und in der anderen irgendwie den Alltag bestreiten muss, wenn man einen Menschen, der einem sehr nahesteht, auf seinem letzten Weg begleitet, fehlt neben der nötigen Zeit vor allem auch der Sinn fürs Schöngeistige. Die berufliche Umorientierung, der Sprung vom Ermitteln zum Lehren, das Abenteuer, das, was man selbst über so viele Jahre erlebt hat, nun an andere weitergeben zu dürfen, und das Glück und die Freiheit zu haben, es so zu tun, wie man es sachlich für geboten hält, auch das forderte, kostete und kostet Zeit. Zeit, die zum Schreiben fehlt.

Trotz alledem entstanden Ideen für neue Projekte; ich editierte die Wiederauflage meines tatsächlichen Debüts, der Kurzgeschichtenband "Baumgesicht" (2003), nach dem Leser bei Veranstaltungen wiederholt fragten; es folgten ein Buch übers Schreiben (2007), eine Märchensammlung als Erinnerung zum Todestag meiner Mutter (2009), schließlich die lange und intensive Arbeit am vierten Roman "Der Garten der alten Dame", die im März dieses Jahres den Abschluss fand; daneben viel Fachliches im Erstberuf, Seminarstoffe, Skripte, Texte, die mich am Schreiben hielten, aber auf einer anderen Baustelle, auf der ich noch immer und für die kommende Zeit weiterhin primär arbeiten werde: Auch das ist beglückendes Schreiben, weil es meine beiden Berufe zusammenführt. Nein, die Zeit zum Schreiben hat mir - zumindest während der vergangenen drei Jahre - nicht wirklich gefehlt.

Es schließt sich die Frage an: Warum dies alles und nicht das eine, auf das die Leser so sehr warten? Hat die Autorin keine Lust mehr auf Historie? Warum vertröstet sie ihre Leser Jahr um Jahr, vergrätzt sie womöglich, weil sie es irgendwann einfach leid sind: dieses endlose Warten auf neue Abenteuer aus dem alten Frankfurt? Sind der Autorin ihre Leser womöglich egal?
Nein, Ihr Lieben, das seid Ihr nicht! Und wenn ich während der Jahre seit Erscheinen von "Kristall" etwas aufrichtig bedauerte, dann das: Dass ich mit meinem (Nicht-)Schreiben viele meiner Leser enttäusche ... Denn beglückender noch als das Erzählen selbst ist es, wenn das Kunststück gelingt,  Euch, die Leser, nicht nur zu finden, sondern zu fesseln, Euch mitzunehmen in die Welt, die ich erschaffen habe, zu begeistern für das, was mich am und beim Schreiben von jeher fasziniert: die Reise anzutreten in das Land der Fantasie.

Es ist die Frage nach der Standortbestimmung, die mich umtreibt und die lange Suche nach einer Antwort: Was will ich, was kann ich schreiben? Wo will ich hin? Welche Freiheiten möchte ich haben? Wie setze ich die richtigen Prioritäten? Welche Kompromisse sollte ich, welche könnte ich, welche möchte ich auf keinen Fall eingehen? Welche Konsequenzen wird das haben und wie gehe ich damit um?
Schon während der Arbeit an "Kristall", noch viel mehr aber danach, sozusagen als Folge des Erfolgs, stellten sich diese Fragen, und meine Antwort, für die ich eine Zeitlang brauchte, sie mir auch nach außen einzugestehen, fiel eindeutig aus: Egal, wie es weitergeht, SO jedenfalls nicht. Nein, es gibt keine "Schuldigen" in diesem Falle, sondern ganz profan bloß andere Prioritäten.

Neben allem anderen brauche ich beim Schreiben das Gefühl, autark zu sein, frei im wahrsten Sinne des Wortes. Ich mag nicht daran erinnert werden, dass meine Geschichte in ein "Genre" einsortiert werden muss, dass andere über das Kleid entscheiden werden, das sie zu tragen hat. Auch über die Tür zum Haus mag ich nicht diskutieren, nicht über die Zahl der Fenster und wohin das Sofa gestellt wird. Stopp: Doch! Ich mag sogar gern darüber diskutieren, wenn der Diskurs sachlich begründet ist, wenn er der Geschichte guttut - darin liegt für mich der Unterschied zwischen Buch und Tagebuch, dem privaten und dem (ver-)öffentlich(t)en Schreiben. Eine professionelle Geschichte muss für Leser erzählt werden, aber eben nicht um jeden und schon gar nicht für jeden Preis.

Zugegeben: So zu denken ist ökonomisch überaus dumm, und es passt nicht in eine Zeit, der ja genau das abhanden gekommen ist: Zeit. Geduld, innere Ruhe,  Hingabe. Man wird belächelt dafür - es lohne sich nicht, es rechne sich nicht, es stehe nicht im Verhältnis, zu was auch immer. Das stimmt sogar, wenn man es vernünftig betrachtet und objektiv analysiert. Und es gibt ja durchaus genügend Beispiele, die belegen, dass das alles wunderbar zusammengebracht werden kann: Autoren, die Schreibfreude, Lesevergnügen und Ökonomie unter einen Hut zu zaubern vermögen, und Leser, die ihnen zahlreich und zufrieden folgen. Für mich entfaltet sich der Zauber, indem ich mir die nötige Zeit nicht länger stehle, wie ich es viele Jahre getan habe, sondern indem ich sie mir lasse. Zeit zum SO-Schreiben, zum DAS-JETZT-Schreiben, zum DAS JETZT NICHT.

Für Leser sind Schriftsteller wie ich eine Zumutung. Für die diversen Beteiligten in der Buchverwertungskette allerdings auch: für Verlage, die planen wollen; für Lektoren, die Content-Vorstellungen haben; für Vertreter und Marketingleute, die  Schubladen und smarte Coverkreationen lieben, für Buchhändler, die Bücher auf geordnete Stapel legen wollen, damit sie die Leser auch schnell finden. Damit muss und kann ich leben - man schließt Verträge oder man lässt es und akzeptiert das Ergebnis, auch wenn man dafür hinter vorgehaltener Hand, sagen wir mal freundlich: als weltfremd bis meschugge gilt. Schließlich haben sie ja alle recht. Aus ihrer Sicht.

Auch Ihr, liebe Leser, habt recht:  Diese Warterei, die endlose, und diese Autorin, die das ihren Lesern zumutet; unmöglich ist das, Schreib-Harakiri sozusagen, bei dem sich die Seele nicht zu wundern braucht, warum das Interesse für die verblichene Hülle bei aller Liebe irgendwann aufgezehrt ist.
Nein! Euch als Leser braucht nicht zu kümmern, ob Autoren am Fließband schreiben oder Wortpedanten sind. Leser sind weder schuld daran noch verantwortlich dafür, wie sich Schriftsteller fühlen, was sie denken, was sie umtreibt, antreibt. Leser interessiert einzig und allein die Geschichte, die sie erzählen. Und wenn diese Geschichte gefällt, wenn der Leser sie gern liest, und der Autor sie gern geschrieben hat, wenn beide zufrieden sind, der eine mit der Arbeit, der andere mit dem Genuss, dann ist die Bücherwelt in Ordnung. Dann stören keine Marketingleute, keine Verlagsvorgaben, auch keine Nörgler, die meinen, auf Bestsellerlisten stehe ohnehin nur Schrott. Nicht mal die Kollegen, deren vordergründig wohlmeinende Kritik oder überschwengliches Lob doch nur den Neid auf den Erfolg versteckt, den sie selbst nicht haben, vermögen wirklich zu irritieren. Weil die Freude am Schreiben ihren Widerhall in der Freude der Leser findet. Weil der Preis für beide stimmt.

Wenn der Schreiber aber zweifelt, wenn er innerlich spürt, dass er einen anderen Weg gehen muss, dann mag das Band zum Leser noch eine Weile halten, aber irgendwann wird die Kraft, die Lust, verloren gehen, Geschichten mit Leidenschaft zu erzählen. Womöglich schreibt der Autor weiter, weil er nicht das Glück hat, einen Zweitberuf zu haben. Weil es sein Vertrag verlangt. Weil die Auflage so gut ist. Weil das Thema gerade gefragt ist. Weil der Verlag das Manuskript gern so hätte, und die Buchhändler das Buch auf den richtigen Stapel legen wollen. Weil die Leser womöglich diesen Roman unbedingt lesen wollen. Aus allen diesen Gründen können Autoren schreiben, und sie werden glücklich bleiben, solange die vielen Weils nicht dem einzigen untergeordnet werden, das letztlich zählt: Weil es sie drängt, eine gute Geschichte zu erzählen.   

Damit ist es die rechte Zeit, zu gehen* ... aus der virtuellen Stube zurück in die reale. Zeit, das Öffentliche wieder mal für eine Weile zu verlassen und im Privaten weiterzumachen. Mit der einen Sache, die zu Ende gebracht werden muss. Und mit der anderen: Jene Geschichte, die schon so lange darauf wartet, endlich erzählt zu werden.
Wann?
Wann immer die rechte Zeit dafür ist.
Ich melde mich.

Herzlichst
Nikola


PS: Eine wahre Fundgrube für interessante, gute, lesenswerte Bücher findet Ihr übrigens unter dem folgenden Link. Die Website betreibt der Autor Dieter Wunderlich, der selbst mehrere tolle Bücher geschrieben hat und gerade an einem neuen arbeitet:


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*aus: N. Hahn, Der Garten der alten Dame