Donnerstag, 10. Januar 2013

Eine Schachtel Alltag - Mühlengespräche mit Nikola Hahn (2)

Thoni Verlag: Im Vorwort Ihres Romans schreiben Sie, dass Personen und Handlung erfunden sind, die Details dem einen oder anderen aber bekannt vorkommen könnten. Sind damit nur die von Ihnen geschilderten Erlebnisse gemeint, oder haben Sie auch reale Personen in Ihren Roman „eingebaut“?
Nikola Hahn: Ich hatte keinerlei Interesse, einen „Schlüsselroman“ zu schreiben. Bei meinen Protagonisten handelt es sich ausschließlich um sogenannte „Gemengepersönlichkeiten“, von einer Ausnahme abgesehen: Kommissar Kunze und seine berühmte Teekanne haben wirklich existiert. Er ist zwar längst pensioniert, aber wer jemals mit ihm gearbeitet hat, weiß beim Lesen sofort, wer gemeint ist. Alle anderen Personen haben keine „Originalvorlage“: Klaus und Uli habe ich beispielsweise viele Erfahrungen zugeschrieben, die ich mit älteren Kollegen gemacht habe, sogenannte Bärenführer, von denen ich viel lernen durfte. Die Unsicherheit, aber auch der Eifer, mit denen Dagmar in ihren Beruf startet, spiegeln zum Großteil meine Gefühle als junge Polizistin wider. Was das Privatleben angeht, habe ich biografisch mit ihr dagegen nichts gemein.
Bei der Beschreibung von Hedis Alltag im Krankenhaus und später als Gemeindeschwester, habe ich auf die Erzählungen meiner Mutter zurückgegriffen, die viele Jahre lang als Hilfsschwester im Krankenhaus und in der Altenpflege gearbeitet hat. Ellis Bücherschatz auf dem Dachboden spiegelt meine Vorliebe für Gedrucktes aller Art; auch in meiner Bibliothek stapeln sich die Bücher in Zweierreihen, und wie Elli habe ich mir den großen Wunsch erfüllt, eine Druckausgabe des Grimm zu besitzen.
Teile aus dem „Künstlerleben“ Viviennes, vor allem die überdrehte Sprache gewisser Leute, die sich in dieser Szene bewegen, sind mir aus eigenem Erleben bekannt; ich arbeite ja nicht nur selbst als bildende Künstlerin, sondern habe auch, allerdings in sehr kleinem und regionalem Rahmen, Ausstellungen organisiert beziehungsweise daran teilgenommen. Für die Neubearbeitung des Romans kam mir außerdem zupass, dass mein Mann mit Bekannten vier Jahre lang das Künstler-Café Mocca betrieb, in dem wir regelmäßig Ausstellungen und Lesungen abhielten. Neben dem Kästchen mit den polizeilichen Stilblüten stand übrigens ein zweites mit „schriftlichen Sammlungen“ über Kunst und Kultur, die ich Vivienne und Galerist Wolfgang Bernsdorf überlassen habe. Ganz ehrlich: Manchmal wusste ich nicht, über welche Inhalte ich mehr lachen sollte.
Thoni: Trotzdem missbrauchen Sie Vivienne nicht als Klamaukfigur.
N.H.: Wie auch? Sie ist zwar von ihrer Persönlichkeit her etwas seltsam, aber nichtsdestotrotz eine ernst zu nehmende Künstlerin. Leider bedient sie nicht das Bedürfnis einer Szene, die ständig das Besondere sucht, wie es Galerist Bernsdorf so hübsch formuliert. Dass ihre Bilder dann doch Erfolg haben, ist nicht nur dem Zufall und Hedis Flunkerkunst, sondern vor allem dem Umstand geschuldet, dass sie an die richtigen Kontakte kommt. Plötzlich sind auch ihre anderen Bilder interessant -zu Recht. Auch wenn ihre Ausführungen zur Bedeutung von Form und Farbe in den Ohren pragmatischer Menschen wie Klaus und Hedi verschroben klingen mögen, sind sie doch das Ergebnis einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit der Frage, was Kunst überhaupt ist. Gleichwohl erlaube ich mir, die Auswüchse „moderner Kunstliebhaberei“ vergnüglich durch den Kakao zu ziehen. Die kleine Ausstellungsführung außer der Reihe, die Hedi im Heidelberger Schloss veranstaltet, hat es übrigens tatsächlich gegeben, wenn auch an einem anderen Ort. Darauf hereingefallen sind die Leute hier wie dort.
Thoni: Und was ist aus Herrn Renzullos Stein geworden?
N.H.: Das ist eine derjenigen Szenen, die die Aktualisierung des Romans überlebt haben, obwohl sie in der Realität keinen Bezugspunkt mehr haben. Der Stein steht schon seit vielen Jahren nicht mehr auf diesem Parkplatz. Ende der 1990er Jahre erschien ein Artikel in der Tageszeitung Offenbach-Post, der mich zu der entsprechenden Szene im Roman inspirierte. Den Polizeieinsatz hat es so nicht gegeben. Umso realer war indes jenes mir unvergessliche Erlebnis, das ich auf einer Lesung in Offenbach hatte: Kommt ein Herr auf mich zu und sagt, dass er doch mal sehen wolle, wer das Buch geschrieben habe, in dem er samt seinem Kunstwerk vorkomme. Wie es sich herausstellte, hatte mich Herr Renzullo höchstpersönlich beehrt. Wir haben beide herzhaft gelacht. Ganz bestimmt wird Renzullos Stein auch künftig einen festen Platz in der Wassermühle haben. Provokation Räume: Das ist einfach zeitlos köstlich!
Thoni: Sie sagten anfangs, Die Wassermühle sei ein zeitgenössischer Roman. Also nur Unterhaltung? Oder haben Sie auch eine Botschaft?
N.H.: Zunächst einmal: Jeder Leser darf und soll diesen Roman zur Freude und Unterhaltung lesen, über die Späßchen lächeln oder ein bisschen traurig werden beim Auf und Ab in der Beziehung zwischen Klaus und Hedi, und natürlich soll er das Ende samt hart gekochtem Ei mit einem Schmunzeln genießen, ohne groß darüber nachzudenken. Was die Botschaft angeht, halte ich es mit  Reiner Kunze, der in seiner Apfelweinkneipe Viviennes Kunstwerke ausstellen will: Wir sind davon überzeugt, dass auch die sogenannten normalen Leute für anspruchsvolle künstlerische Arbeiten zu begeistern sind, wenn sie sie in einem Umfeld präsentiert bekommen, das sie nicht einschüchtert. Insofern hoffe ich, dass der eine oder die andere vielleicht auch zwischen den Zeilen lesen und erkennen mag, dass Die Wassermühle von der Gesellschaft erzählt, in der wir leben, und von dem Miteinander, oder vielmehr Nicht-mehr-Miteinander der Menschen.
Thoni: Inwiefern?
N.H.: Bewusst habe ich verschiedene Lebenswelten nebeneinander und  gegeneinander gestellt: die sensible, überkandidelte Künstlerin und die bodenständige, pragmatische Krankenschwester; die idealistische, ehrgeizige junge Polizistin und der erfahrene, am Leben gereifte Polizeibeamte; der welt- und wortgewandte, beruflich erfolgreiche und bewunderte Galerist Bernsdorf, die literaturbegeisterte adelige Dorfbäuerin Elli, deren vorgeblicher Abstieg sie letztlich ihr Lebensglück finden ließ, auch wenn das mit ihren romantischen Vorstellungen vom Landleben herzlich wenig zu tun hatte. Dass auch die „kleinen“ Nebenfiguren im Roman Namen haben und individualisiert werden, etwa Maria Westhoff, die verrückte alte Dame mit den Gespenstern im Wohnzimmer, oder Anne Ludewig, die ihren Sohn verliert, hat ebenfalls mit dieser Intention zu tun. Friedrich Hartmann, dessen Frau nach 61 Jahren Ehe stirbt, die pöbelnde Taxifahrerin Martha, die ihren Mann vermöbelt oder Willi, der „objektiv gesehene versoffene Pennbruder“, stehen für die vielfältigen, tragisch-komischen Lebenswelten, die, teils unsichtbar, in unserer Gesellschaft existieren.
Thoni: Nicht wenige von ihnen haben am Ende die Einsamkeit zu Gast.
N.H.: Ja, die Einsamkeit hat viele Gesichter: Menschen wie Rosa Ecklig oder der alte Witwer Möbius, der auf die Hefeklöße seiner Nachbarin schimpft, versuchen sie mit Aggressionen zu bekämpfen, andere ziehen sich zurück, stürzen sozial ab wie „Penner Willi“.  Auch wenn es ihn als reale Person nicht gegeben hat: Ich war damals bei der Räumung der Hütten am Kaiserlei dabei und habe das genau so empfunden, wie Klaus es im Roman Dagmar erzählt. In solchen Momenten ist man sprachlos, weil die Verlassenheit eines Menschen so übermächtig deutlich wird. Einsamkeit ist ein existenzielles Gefühl; ich habe das oft gespürt, wenn ich in eine dieser verwahrlosten Wohnungen kam, in denen ein Mensch (meist waren es Männer) seit Wochen unbemerkt tot im Bett lag oder, besonders makaber, vor dem laufenden Fernseher saß. Jeder Gegenstand atmete die Verzweiflung über das Verlassensein, die sich schon lange vor dem Tod allen Lebens bemächtigt hatte. Nicht der Tod war das Erschütternde, sondern die Geschichte, die er über das Schicksal eines einsamen Menschen  erzählte.
Thoni: Im Roman erlebt Klaus nicht nur dienstlich, sondern auch privat, wie bitter dieses Gefühl ist ...
N.H.: Er versucht es zunächst zu verdrängen und, als das nichts hilft, mit Ironie und zu viel Bier dagegen anzukämpfen. Wie verlassen er sich tatsächlich fühlt, merkt seine junge Kollegin, als sie ihn an seinem Geburtstag mutterseelenallein in seiner Wohnung findet. Als er glaubt, Hedi verloren zu haben, und nachdem sein Sohn angekündigt hat, auszuziehen, hat er eine solche Angst vor der leeren Wohnung, dass er lieber im Auto bleibt und sich betrinkt, als in ein Zuhause zurückzukehren, das für ihn keins mehr ist. Aber es gibt auch eine subtile und doch nicht minder schmerzliche Einsamkeit, die auf den ersten Blick nichts mit Alleinsein zu tun hat. Sie versteckt sich hinter glänzenden Fassaden, auf denen Dinge stehen wie: Erfolg, Macht, Einfluss. Wie einsam muss der umschwärmte Wolfgang Bernsdorf innerlich sein, wenn er Sätze sagt wie diesen: Es gibt nicht allzuviele Menschen, bei denen ich sicher bin, dass sie mich um meiner selbst willen mögen.
Thoni: Sowas überliest man aber schnell ...
N.H. (lächelt): Ja, ebenso schnell, wie man es im Alltag überhört. Diese Sprachlosigkeit zu zeigen, das Schweigen inmitten von Geschwätzigkeit und die stillen Schreie überhörter Nebensätze: Auch das war eine Intention, diesen Roman zu schreiben. Ich wollte eine Geschichte darüber erzählen, wie wir miteinander kommunizieren, oder eben auch nicht (mehr) kommunizieren. Wir verstehen uns-in der Doppeldeutigkeit dieses Satzes liegt das Geheimnis gelungener Beziehungen: Ich schätze dich, weil ich verstehe, was du sagst. Ich verstehe dich, weil ich dich einzuschätzen weiß. Sich die Zeit zu nehmen, einen Menschen wirklich kennenzulernen, entbindet von der Mühe, seine Worte einzeln auf die Waagschale zu legen, und vor allem hilft es, sie richtig abzuwägen. Ich hab’s nicht so gemeint: Wer mag, kann sich einen Spaß daraus machen und mal nachzählen, wie oft dieser Satz meinen Figuren über die Lippen kommt.
Thoni: Und welche Funktion hat die Sprache, die Sie aus Ihren Zettelkästen und als Literaturzitate einbringen?
N.H.: Nun ja, manchmal legen es Gesprächspartner bewusst darauf an, vom Gegenüber nicht verstanden zu werden: Sprache dient dann nicht der Kommunikation, sondern als Bollwerk, um sich gegen andere abzugrenzen. Man kann mit sehr vielen Worten nichts sagen oder, wie es Klaus ausdrückt, Selbstverständlichkeiten in Neudeutschgelaber so geschickt verpacken, bis sie niemand mehr versteht. Sprache kommt aber auch gern als unüberlegte Plapperei daher, sei es Society-Smalltalk oder Gartenzauntratsch, die sich bestenfalls in der rhetorischen Brillanz unterscheiden, wie die blaublütige Bäuerin Elli überrascht feststellt.
Was die Zitate angeht, stimme ich Heinrich Heine zu, dass man sich mit Klugheiten anderer gut schmücken kann. Was jedoch meine Intention fürs Schreiben der Wassermühle betrifft, möchte ich es mit Vivienne halten: Schon immer habe ich Freude daran gehabt, den Worten nachzuspüren, die andere über Dinge gesagt haben, die mir wichtig sind. Die Sprache ist Mittel und Werkzeug, um die Menschen und die Welt zu verstehen, und, so schließt sich der Kreis, Kunst besteht darin, dieses Verständnis in Bilder mit einem Aha-Erlebnis zu übersetzen, sei es mit Hilfe von Form und Farbe, wie es Vivienne tut, oder literarisch, also editierend und schreibend, wie Elli es mit ihrer Literaturzeitschrift Die Wörtertruhe versucht.
Thoni: Oder mit einem Roman, der vordergründig als heitere Familiengeschichte daherkommt?
N.H. (lacht): Ertappt.
 
Fortsetzung folgt ... siehe nächsten Beitrag in diesem Blog (Leiste links!)

 

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